Offener Brief an Anita
Ihre Webseite:
http://www.anita-ossinger.de/39994.html
Liebe Anita,
als ich am Montag abend im ORF 2 in der Sendung Thema von Ihrem Schicksal in Ihrer Kindheit und frühen Jugend hörte, hat mich das sehr berührt.
Ich kann das teilweise nachvollziehen, wie es Ihnen ergangen ist.
Vielleicht auch deswegen, weil es mich an meine ehemalige Schulkollegin G. erinnert hat.
Wir wuchsen in einem Vorstadtbezirk Wiens auf und gingen dort in die Schule. Es war zu einer Zeit, in der unsere Mütter noch nicht die Pille kannten und viele von uns waren sogenannte "Unfälle", mich eingeschlossen, und wir waren oft unerwünscht.
Dementsprechend ging man mit uns um.
G. war ein sehr nettes Mädchen, sie hatte rote Haare, grüne Augen und Sommersprossen. Sie hatte eine ganz eigene Schönheit, Barbie war sie keine.
Ihr Mutter kümmerte sich nicht sehr um sie und sie hatte fast immer dasselbe an und wirkte etwas verwahrlost.
In der Schule gab es auch keine Unterstützung für sie, im Gegenteil! Sie saß in der letzten Bank.
Und wenn jemand bestraft wurde, dann setzte die Lehrerin die schlimmen Kinder neben sie, als Strafe. Das war natürlich der Hammer für das Mädchen, daß "neben ihr sitzen" für die anderen eine Strafe war.
Da ich oft sehr schlimm war (ich hatte meist 3er in Betragen und einmal sogar eine 4!) , saß ich oft neben ihr und blieb dann einfachhalber gleich neben ihr sitzen.
Einmal war ich bei ihr zu Hause.
Unglaubliche Zustände waren das. Ich nehme an, G. ´s Eltern waren Alkoholiker.
Ihre Mutter hatte gerade ein Baby geboren und dieses Neugeborene lag in einem Gitterbett ohne Matraze oder Decke, es lag auf Zeitungspapier und hatte ein völlig verdrecktes Babygewand an.
Als ich es meiner Mutter und anderen Erwachsenen erzählte, da merkte ich, daß scheinbar alle (inklusive Lehrer) über die Zustände in diesem Haushalt Bescheid wussten. Die Fürsorge war oft dort, aber es gab keine Verbesserung. Im Gegenteil.
Es wurde noch schlimmer.
Als wir ungefähr 11 oder 12 Jahre alt waren, kam ein Gerücht auf, daß ihre Brüder und der eigene Vater sich an ihr vergingen.
Leider war das kein unwahres Gerücht.
Sie durfte auch kaum in die Schule gehen, denn sie musste für die Familie in einem Gemüsegeschäft arbeiten, weil die Eltern arbeitslos waren.
Wir sahen sie nur noch selten.
Für die damaligen Erwachsenen war sie kein Opfer, sondern die Schlampe, die die Männer verführt hat.
Eines Tages, sie war 13, stand sie fassungslos und zitternd über einer Lacke im Turnsaal.
Die Lehrerin sagte uns, daß sich G. angemacht hat und nun gehen muss.
Wir haben sie nie wieder gesehen.
Beim Klassentreffen 20 Jahre später kam heraus, daß sie sich gar nicht angemacht hat, damals im Turnsaal - sondern daß ihre Fruchtblase geplatzt ist!
Sogar dann noch haben uns die Erwachsenen angelogen!
Ich denke oft an G.
Was aus ihr geworden ist, was sie nun macht, ob sie alles gut verkraftet hat - soweit es halt geht....
Ob sie geheiratet hat und ein gutes Leben führt.
Denn in ihrer Jugend war ihr Schicksal alles andere als gnädig zu ihr.
Ich würde G. gerne wiedersehen und Ihr sagen, wie leid mir das alles tut.
Ich bin sicher, daß Sie mit Ihrem Buch und Ihrem gemeisterten Schicksal anderen Frauen, die in solche ausweglose Lebenssituationen kommen, Mut machen werden!
Dass die Fürsorge nicht einschreitet, hat man ja kürzlich erst am Fall Luca betrachten können.
Und ich sage das nicht, um auf der Fürsorge herum zu hacken. Ich kann mir vorstellen, dass hier manchmal der Anblick katastrophaler Verhältnisse eine Schutzfunktion der Verdrängung aufruft.
Ich kenne auch einen Klassenkameraden, Institutsvorstand und ich glaube doppelter Doktor, - den hat man in der f. Klasse AHS rausgeschmissen, weil "er so dumm" war. In Wirklichkeit wurde seine Unpünktlichkeit bemängelt und die trat auf, weil er in der Früh seine drei Geschwister in Kindergarten und Schule brachte. Alleinerziehende Mutter mit vier Kindern.
Es war für mich damals ein schmerzliches Lernerlebnis, weil ich erleben musste, wie falsch ein von mir als "gerecht" empfundener und verehrter Lehrer urteilen und argumentieren konnte.
ich glaube auch, daß es für die Fürsorge nicht leicht zu beurteilen ist, wann ein Kind in der Familie bleiben soll und wann nicht. Das ist immer eine sehr schwierige Entscheidung!
Nicht nur deswegen, weil es für die betreffenden Kinder ein einschneidendes Erlebnis ist.
Bestimmt ist zwischen der Fürsorge damals und heute ein großer Unterschied.
Wie ich in der Leseprobe auf Frau Anitas Webseite lesen konnte, waren die Damen der Fürsorge damals nicht gerade einfühlsam.
Wie sehr viele Institutionen damals....
Da kommen auch bei mir Erinnerung hoch, als ich im Kindergarten von Klosterschwestern stopfgansmässig zwangsernährt wurde.
Eine Schwester hatte mich an den Haaren gepackt und den Kopf nach hinten gehalten, währen die andere mir Löffelweise stinkenden Kohl (Köch) hineingestopft hat.
Da ich geweint habe, konnte ich nicht schlucken.
Kurz: ich wäre fast erstickt.
Wenn sowas heute passiert, dann wäre es ein großer Skandal.
Lehrer konnten die Schüler noch ohrfeigen oder willkürlich verfahren, wie bei Deinem Schulfreund.
(Mein Opa sagte mir immer, daß ich froh sein soll, in seiner Kindheit war es noch ärger.)
Das was Deinem Klassenkameraden passiert ist, ist ja auch ungeheuerlich!
So gesehen, wird es immer besser. Zumindest scheinbar.
Oder doch? Ich weiß nicht. Vielleicht haben die Kinder von heute wieder ganz andere Probleme....
immer noch betroffen.
vor fünf jahren hat eine journalistin über die - inzwischen direktorin - einen beitrag geschrieben und wurde von der inzwischen direktorin verklagt. eine ganze reihe von leuten - auch aus "meiner zeit" wurden als zeugen vorgeladen. das verfahren wird verschleppt. soweit ich weiss, gibt es bis heute kein urteil. und die direktorin - unterrichtet nach wie vor nach ihrer "bewährten methode" …
die mehrheit im ort - schweigt. ist froh, wenn es "die eigenen kinder" nicht erwischt oder hält das maul, weil man "darüber" nicht spricht. immer noch. 2009. seit mittlerweile über 30 jahren … nein, es ändert sich gar nichts.
Also das finde ich ja auch arg!!
Wie kann das sein? Der Ort wehrt sich nicht?
Dann muss diese Dame sehr einflussreiche Freunde haben.
entsetzlich
Auch mir ist es dementsprechend gegangen, aber dafür war ich auch *ganz schlimm* - in den Augen der Erwachsenen.
Das Wort "aufgeweckt" hatte damals noch eine negative Bedeutung.
wenn man früher an allem interessiert und wissbegierig war, dann wurde man als schwer erziehbar eingestuft.
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